Wie ich schon gesagt habe, werden Romanpersonen nicht wie lebendige Menschen aus einem Mutterleib, sondern aus einer Situation, einem Satz, einer Metapher geboren, in deren Kern eine Möglichkeit des Menschen verborgen liegt, von der der Autor meint, dass sie noch nicht entdeckt oder dass noch nichts Wesentliches darüber gesagt worden sei.
Oder stimmt es, dass der Autor nur über sich selbst reden kann?
Hilflos über den Hof zu schauen und nicht zu wissen, was tun; das Rumoren des eigenen Bauches im Moment verliebter Erregung zu hören; zu verraten und nicht innehalten zu können auf dem schönen Weg von Verrat zu Verrat; die Faust zu erheben im Zug des Großen Marsches; seinen Scharfsinn vor den geheimen Mikrophonen der Polizei zur Schau zu stellen alle diese Situationen habe ich selbst kennengelernt und erlebt, und trotzdem ist aus keiner die Person erwachsen, die ich selbst in meinem curriculum vitae bin. Die Personen meines Romans sind meine eigenen Möglichkeiten, die sich nicht verwirklicht haben. Deshalb habe ich sie alle gleich gern, deshalb machen sie mir alle die gleiche Angst. Jede von ihnen hat eine Grenze überschritten, der ich selbst ausgewichen bin. Gerade diese unüberschrittene Grenze (die Grenze, jenseits derer mein Ich endet) zieht mich an. Erst dahinter beginnt das große Geheimnis, nach dem der Roman fragt. Ein Roman ist nicht die Beichte eines Autors, sondern die Erforschung dessen, was das menschliche Leben bedeutet in der Falle, zu der die Welt geworden ist.
Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins,
München 2004 (Süddeutsche Zeitung), S.203 f.
Romanfiguren: nicht die Beichte eines Autors
Oder stimmt es, dass der Autor nur über sich selbst reden kann?
Hilflos über den Hof zu schauen und nicht zu wissen, was tun; das Rumoren des eigenen Bauches im Moment verliebter Erregung zu hören; zu verraten und nicht innehalten zu können auf dem schönen Weg von Verrat zu Verrat; die Faust zu erheben im Zug des Großen Marsches; seinen Scharfsinn vor den geheimen Mikrophonen der Polizei zur Schau zu stellen alle diese Situationen habe ich selbst kennengelernt und erlebt, und trotzdem ist aus keiner die Person erwachsen, die ich selbst in meinem curriculum vitae bin. Die Personen meines Romans sind meine eigenen Möglichkeiten, die sich nicht verwirklicht haben. Deshalb habe ich sie alle gleich gern, deshalb machen sie mir alle die gleiche Angst. Jede von ihnen hat eine Grenze überschritten, der ich selbst ausgewichen bin. Gerade diese unüberschrittene Grenze (die Grenze, jenseits derer mein Ich endet) zieht mich an. Erst dahinter beginnt das große Geheimnis, nach dem der Roman fragt. Ein Roman ist nicht die Beichte eines Autors, sondern die Erforschung dessen, was das menschliche Leben bedeutet in der Falle, zu der die Welt geworden ist.
Milan Kundera, Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins,
München 2004 (Süddeutsche Zeitung), S.203 f.